Wut-Bürgerbeteiligung
Ein kritischer Beitrag von Frank Brodmerkel zur aktuellen Diskussion
„Demokratie lebt davon, dass Mehrheiten akzeptiert werden, sie bedeutet nicht, dass alles, dem nicht auch der letzte zustimmt, undemokratisch ist. (Markus Preis, ARD)
Es ist unbestritten gut, sich mit aktuellen Themen und Bauprojekten differenziert und kritisch auseinanderzusetzen und sich ggf. auch selbst mit Ideen und Vorschlägen einzubringen, denn das macht Demokratie aus. Doch in Zeiten grassierender „Social Media“-ritis, überstrapazierten Kommentarfunktionen und stündlich neuen Online-Petitionen ist die Grenze zwischen konstruktiver Beteiligung und zeterndem Wutbürgertum heute relativ fließend. Bürgerbeteiligungsprojekte scheitern dagegen immer öfter an fehlender Kompromissfähigkeit.
Kaum etwas ärgert Bürger so sehr, wie das Gefühl – ob zutreffend oder nicht -, von „denen da oben“ übergangen oder für dumm verkauft zu werden. Das gilt für das Thema Bürgerbeteiligung an Groß- und Infrastrukturprojekten, beispielsweise im Zusammenhang mit der Energiewende, aber ebenso für große volkswirtschaftliche Themen wie die Freihandelsabkommen CETA oder TTIP. Und es mündet schließlich in die aufkommende Diskussion um mehr Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie durch Referenden und Volksentscheide, wie sie der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer in seiner eher populistischen Art gefordert hat. Doch wo liegen die Grenzen von konstruktiver Bürgerbeteiligung und wo beginnt Populismus und undifferenziertes postfaktisches Wutbürgertum?
Seit den heftigen Diskussionen und Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit Stuttgart 21 vor etwa fünf Jahren hat sich Bürgerbeteiligung in Politik und Gesellschaft mehr oder weniger etabliert. Projektbetreiber wie Politiker greifen heute immer häufiger zum vermeintlichen Wundermittel der Bürgerbeteiligung und starten Dialogprozesse, von denen sie sich erhoffen, dadurch ihre Projekte leichter – selten schneller – durchsetzen zu können. Durch größere Bürgernähe und Einbindung der unterschiedlichen Interessengruppen in Entscheidungs- und Planungsprozesse will man erreichen, dass sich (wieder) mehr Menschen mit ihrer Gemeinde identifizieren und das Vertrauen in Politik und öffentliche Verwaltung ansteigt.
Doch in der Rückschau zeigt sich bei vielen Beteiligungsprojekten, dass sie trotz großem Aufwand und intensivem Bemühen der Beteiligten oft scheitern. Doch warum erreicht Bürgerbeteiligung häufig nicht das in sie gesteckte Ziel?
Fehlende Akzeptanz
Es gibt heute kaum noch Groß- und Infrastrukturprojekte ohne massiven Widerstand unterschiedlicher Interessengruppen. So konnten beispielsweise 81 Infrastrukturprojekte mit einem Investitionsvolumen von insgesamt 51 Milliarden Euro – vornehmlich aus den Bereichen Verkehr und Energieversorgung – 2012 in Deutschland vor allem deshalb nicht oder nicht fristgerecht umgesetzt werden, weil die Akzeptanz in der Bevölkerung fehlte. Ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber der Politik und Verwaltung – einer RWE-Studie zum Thema Bürgerbeteiligung
im Zusammenhang mit der Energiewende zufolge verdächtigen etwa 70 Prozent der Bürger die Politik, sich eher an Interessen einzelner gesellschaftlicher Gruppen zu orientieren als am Gemeinwohl.
Partizipationsparadox
Das so genannte Partizipationsparadox beschreibt folgende Situation: zu Beginn einer Projektplanung ist die Möglichkeit der Beteiligung am größten, aber hier ist auch das Bürgerinteresse und der Wunsch nach Engagement und aktiver Beteiligung noch am geringsten. Je konkreter und sichtbarer ein Projekt dann wird, umso mehr reduzieren sich die Möglichkeiten der Beteiligung und Einflussnahme, während das Bürgerinteresse mit Projektverlauf ansteigt. Beispiel Stuttgart 21: schon 1997 hatten die Projektentwickler erste Architektenentwürfe im Stuttgarter Hauptbahnhof präsentiert, was damals kaum beachtet wurde. Doch erst nach dem Abriss des Bahnhofseitenflügels wurde die Öffentlichkeit aufmerksam und begann, immer heftiger zu demonstrieren. Da war das Kind längst in den Brunnen gefallen.
Beim Aufsetzen von Bürgerbeteiligungsverfahren spielt deshalb der Startzeitpunkt eine bedeutende Rolle. Für den Erfolg einer Bürgerbeteiligung ist es eben nicht egal, ob die Einbindung schon in der Projektentwicklungsphase, in der Phase der behördlichen Genehmigung oder erst in der Umsetzungsphase erfolgt. Auch von der Art der Einbindung hängt letztlich der Erfolg ab: eine Informationskampagne ist etwas anderes als ein Dialogprozess oder konkrete Mitgestaltungs- und Mitentscheidungsmöglichkeiten. Häufig existieren falsche Erwartungen ob des Gestaltungs- und Entscheidungsspielraums von Bürgerbeteiligung, der häufig viel kleiner ist, als von den Bürgern angenommen bzw. von den Projektverantwortlichen kommuniziert. Frustration und Protest ist die Folge.
Falsche Erwartungshaltung und Eigeninteressen dominieren
Winfried Kretschmann, Ministerpräsident von Baden-Württemberg und sicher einer ablehnenden Haltung gegenüber Bürgerbeteiligung unverdächtig, meinte zu diesem Thema: „Es gibt kein lokales Vetorecht. Die „Politik des Gehörtwerdens“ bedeutet, dass jeder gehört wird, aber nicht, dass jeder erhört wird mit seinem Anliegen.“ Doch viele gehen mit starken Einzelinteressen in einen Bürgerbeteiligungsprozess. So stehen beispielsweise einem ökologischen Grundgedanken vieler Infrastrukturprojekte der Energiewende heute häufig abweichende Eigeninteressen gegenüber. Die Haltung „Not in my backyard“ (nicht in meinem Hof) ist weit verbreitet und letztlich meistens ausschlaggebend für eine kompromisslose Haltung. Im Mittelpunkt stehen also persönliche Interessenkonflikte, zum Beispiel die Angst vor Wertverlust der eigenen Immobilie, verletzte Sichtachsen, Geräusche, etc.
Mediale Skandalisierung
Letzlich spielen aber auch die (sozialen) Medien eine unrühmliche Rolle in ihrer Tendenz, Sachverhalte zu vereinfachen und zu skandalisieren, was die öffentliche Konfrontation häufig noch anfacht. Der Umgangston ist oft unerträglich. Befürworter und Gegner beschimpfen sich via lokale Medien, anstatt sachlich zu diskutieren. Ängste und Unterstellungen, wie man es von Popolisten kennt, werden geschürt, Fronten verhärten sich, Kompromisslinien gehen verloren. Gar nicht erst zu sprechen vom Trend zu Fake News, böswillig falschen Behauptungen, wie Sie Herr Trump salonfähig gemacht hat.
Verhinderung statt Verbesserung
Grundsätzlich sind Menschen heute kaum mehr zu Kompromissen bereit, sondern wollen ihren Standpunkt und ihre Interessen zu möglichst 100 Prozent durchsetzen. Es geht vielen in Beteiligungsprozessen nicht um Verbesserung, sondern um Verhinderung. Übrig bleibt deshalb oft nur ein kleinster gemeinsamer Nenner und manchmal nicht einmal der.
Fazit:
Soll Bürgerbeteiligung ein wirksames Instrument bleiben, müssen wir alle wieder lernen, Kompromisse zu schließen und auch zu akzeptieren, dass es für bestimmte Entscheidungen gesetzlich vorgesehene Gremien gibt. Theoretisch können Referenden und Volksentscheide eine Demokratie beleben, vorausgesetzt aber die Bürger sind gut informiert und können Vor- und Nachteile einer Entscheidung klar abschätzen. Das ist jedoch eher Wunschdenken von Politologen als Realität. Werden komplexe Fragestellungen dagegen in Referenden auf Ja oder Nein verkürzt, polarisieren sie in ihrer radikalen Trennung von Siegern und Besiegten zusätzlich – siehe Brexit.