Bremst Bürgerbeteiligung die Energiewende aus?

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Zahlreiche Infrastrukturprojekte im Zusammenhang mit der Energiewende werden durch Bürgerproteste, Bürgerentscheide und Klagewellen ausgebremst. Und viele sehen in der starken Zunahme von informellen Bürgerbeteiligungsprozessen der letzten Jahre bereits eine „Überdemokratisierung“ und den Grund für die Verzögerung und Verteuerung vieler Groß- und Infrastrukturprojekte, auch und gerade im Zusammenhang mit der Energiewende. Aber stimmt das?

Erneuerbare Energien erfreuen sich in Umfragen großer Zustimmung. Doch die hohen Beliebtheitswerte der Technologien fu?hren nicht automatisch zur Akzeptanz konkreter Projekte vor Ort. So gibt es heute in Deutschland kaum noch Groß- und Infrastrukturprojekte, die ohne massiven Widerstand der lokalen Bevölkerung umgesetzt werden können. Bürger fordern mehr Information und Mitsprache bei der Planung und Zulassung von Groß- und Infrastrukturprojekten. Einer Forsa-Umfrage von 2013 zufolge möchten 92 Prozent der Bundesbu?rger vom Staat umfassend u?ber Projekte und Maßnahmen informiert werden, von denen sie in irgendeiner Art und Weise betroffen sind. 78 Prozent der Bu?rgerinnen und Bu?rger sind mit den Partizipationsangeboten der verantwortlichen Projekttra?ger bei geplanten Infrastrukturmaßnahmen oder anderen Großprojekten unzufrieden und wünschen sich mehr Möglichkeiten, sich zu beteiligen oder eigene Ideen einzubringen.

Top-down Politik funktioniert heute nicht mehr, Politik und Verwaltung sind keine „geschlossene Gesellschaft“ mehr, sie müssen sich mit dem Bürgerwillen – nicht nur zu Wahlen – direkt auseinandersetzen. Politische Entscheidungsprozesse der repra?sentativen Demokratie mit ihren formalisierten Beteiligungsrechten geraten da zunehmend an ihre Grenzen. Instrumente wie Raumordnungs- und Planfeststellungsverfahren genu?gen heute immer weniger den gea?nderten Anforderungen komplexer Projekte und einer kritischeren O?ffentlichkeit. Die wachsende Unzufriedenheit der Bürger mit Entscheidungen der Politik und Verwaltung ist ein Grund für die steigende Politikverdrossenheit. Heiner Geißler, der 2010 bei Stuttgart 21 als Schlichter engagiert war, sprach sich damals für neue Wege der Akzeptanzbeschaffung aus: “Wir beno?tigen A?nderungen im Gesetz, vielleicht sogar in der Verfassung, um plebiszita?re Elemente, Volksentscheidungen oder Befragungen einzufu?hren. Auch auf der Bundesebene.“

Spätestens seit den Erfahrungen mit Stuttgart 21 versucht die Politik, diesem Anspruch nachzukommen und unterstützt Bürgerbeteiligungsprozesse, auch und gerade im Hinblick auf die Umsetzung der Energiewende. „Wir werden die Erneuerbaren Energien so ausbauen, dass die Ausbauziele unter Berücksichtigung einer breiten Bürgerbeteiligung erreicht und die Kosten begrenzt werden“, so steht es im Koalitionsvertrag der Bundesregierung, und weiter: „Aufgrund der hohen Dringlichkeit des Netzausbaus für das Gelingen der Energiewende ist eine breite Akzeptanz der Bevölkerung notwendig, die heute noch in vielen Fällen nicht gegeben ist.“

Bürgerbeteiligung und Wutbürger

Häufig sind es aber Frontenbildung, lautstarke Proteste und Demonstrationen von Bürgerinitiativen, Petitionen, Volksbegehren und klagende Bürger, die die Wahrnehmung der Öffentlichkeit prägen. Das Bild der „Wutbürger“ wird oft mit Bürgerbeteiligung gleichgesetzt. Doch das Gegenteil ist richtig. Denn solche Reaktionen entstehen meist erst, wenn die Bürger das Gefühl haben, übergangen oder nicht ernst genommen zu werden. Auch eine zu späte Bürgerbeteiligung führt zwangsläufig zu solchen Reaktionen. Dagegen schafft eine frühzeitige Einbindung der Bürger Transparenz und reduziert A?rger und A?ngste. Bu?rger nehmen eine eher konstruktive Haltung dem Projekt gegenu?ber ein, auch wenn sie diesem kritisch gegenüberstehen.

Durch kooperative Planung mit den Bürgern können kritische Positionen offen erörtert werden. Selbst eine grundsätzliche Ablehnung eines Projekts durch die Bürger kann so frühzeitig festgestellt werden, bevor hohe Investitionen zu tieferen Konflikten innerhalb der Kommune führen. Der Chef der Flughafen Berlin Brandenburg GmbH, Hartmut Mehdorn, kritisierte in diesem Zusammenhang in einem Interview mit dem Handelsblatt, dass sich Betroffene häufig erst direkt vor Baubeginn mit Großprojekten auseinandersetzen und ihre Klagen vortragen, was aus seiner Sicht der Hauptgrund für steigende Kosten und Verzögerungen bei Groß- und Infrastrukturprojekten sei. Wenn man aber bei Großprojekten künftig Mehrkosten und Zeitaufwand für die Bürgerbeteiligung von Anfang an einbeziehe, könne man letztlich reibungsloser zu einem Konsens gelangen. Durch Beteiligung werden Projekte der Energiewende als gemeinsame Aufgabe der Menschen vor Ort mit den Planern begriffen und umgesetzt; Entscheidungen auf Grundlage eines Beteiligungsprozesses sind stärker legitimiert. Das Vertrauen der Bürger in Politik und Verwaltung steigt, eine Kultur der Zusammenarbeit und des Dialogs wird gefördert und die lokale Demokratie wird gestärkt. „Das ist der Aufschlag, den wir für die Demokratie bezahlen“, kommentierte Mehdorn mit Blick auf die Kosten solcher Beteiligungsverfahren. „Doch wir können froh sein, dass wir ihn zahlen dürfen. Ich bin ein Freund der Bürgerbeteiligung.“

Natürlich sind Ergebnisse von Bürgerbeteiligung auf kommunaler Ebene nicht rechtsverbindlich, sondern haben nur beratenden Charakter. Gisela Erler, Staatsrätin f. Zivilgesellschaft u. Bürgerbeteiligung in Baden-Württemberg erklärt hierzu: „Bürgerbeteiligung darf nicht verwechselt werden mit direkter Demokratie oder Abstimmungen. Bürgerbeteiligungen sind im Kern gestaltende Beratungsprozesse, aber keine Entscheidungsprozesse.“ Doch wenn Menschen von Maßnahmen Dritter in ihrer unmittelbaren Umgebung betroffen sind, wollen sie grundsa?tzlich gefragt werden, ob und wie diese Maßnahmen durchgefu?hrt werden – auch wenn sie prinzipiell die Notwendigkeit der Maßnahme nachvollziehen ko?nnen. Bürgerbeteiligung schafft Akzeptanz, wenn Betroffene eine faire Chance bekommen, ihre Interessen und Bedu?rfnisse zu artikulieren, ihre Argumente einzubringen und wenn sie sich gerecht behandelt fühlen. Denn individuelle Akzeptanz entsteht oft schon dann, wenn das Ergebnis zwar nicht den Wu?nschen des Einzelnen entspricht, er aber den gesamten Beteiligungsprozess als fair und gerecht beurteilt.

Kosten einer Nichtbeteiligung

Dipl. Ing. Tilmann Schulze-Wolf von der Entwicklerfirma entera hat in einem interessanten Aufsatz aufgeführt, welche immensen Kosten – sowohl moneta?r als auch immateriell – entstehen können, wenn auf Bürgerbeteiligung verzichtet wird. Monetär können Planungs- und Baukosten für Fehlplanungen auftreten, die bei einer O?ffentlichkeitsbeteiligung vermeidbar gewesen wa?ren, außerdem Folgekosten durch Unterhaltungs- oder Pflegemaßnahmen, Betriebs- und Personalkosten sowie Aufwendungen für Ru?ckbau und Entsorgung. Gravierender sind dagegen die immateriellen Kosten, sie umfassen z.B. den Verlust von Wa?hlerstimmen, eine rapide sinkende Akzeptanz von Verwaltungshandeln und eine steigende Politikverdrossenheit der Bu?rger, die bis zur Abkopplung von politischen bzw. gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen gehen kann.

Die Frage nach einem Zuviel an Bürgerbeteiligung stellt sich eigentlich so nicht, sondern eher nach dem „wie“ und dem „wann“. Gisela Erler meint „Bürgerbeteiligung ist ein großer Lernprozess für Bürger, Verwaltung und Politik. Bürgerbeteiligung funktioniert nicht auf Knopfdruck, sondern braucht Zeit, Erfahrungen, viele gute Beispiele und muss auch aus gescheiterten oder problematischen Beteiligungen lernen.“

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